Struktur: Das wahre Geheimnis des Essens

Jedes Mal, wenn sie sich mit der Komplexität der Dinge konfrontiert sah, wusste die Wissenschaft keine andere Lösung, als die Wirklichkeit in immer kleinere Teile zu zerlegen, überzeugt, dass wir, wenn wir erst das metaphorische Atom Demokrits (wieder-)gefunden hätten, bei der Wahrheit angekommen wären. Dieser Anstoß würde uns zu weit führen, doch kann ich nicht anders, als festzustellen, wie auch die Nahrungsmittel auf diese Weise behandelt worden sind; es geht so weit, dass es uns völlig offensichtlich und selbstverständlich erscheint, dass wir alles über ein Essen wissen, wenn wir seine molekulare Zusammensetzung kennen.In den letzten Jahrzehnten jedoch haben wir uns immer öfter vor Koinzidenzen und scheinbar paradoxen Tatsachen wiedergefunden, die wir nicht erklären konnten: zum Beispiel, dass die Länder mit den meisten Knochenbrüchen die sind, in denen der Verzehr von Milch und Milchprodukten am höchsten ist; oder dass nahrungsergänzende Vitamine sehr viel wirksamer sind, wenn die synthetischen Produkte zusammen mit natürlichen Quellen derselben Vitamine eingenommen werden… Die Liste ist sehr lang und der Kliniker sieht sich tagtäglich in der Situation, dass er sich mit einer Wirklichkeit auseinandersetzen muss, die nicht genau die ist, die in den Büchern beschrieben wird. Am Ende mussten wir vor der Komplexität der biochemischen Realität kapitulieren. Wir wissen jetzt, dass die Summe seiner Bestandteile nicht ausreicht, um den Personalausweis eines Nahrungsmittels vorzuzeichnen: Über diesen grundlegenden Parameter hinaus war es nötig, einen neuen mit dem selben Wichtigkeitsgrad einzuführen: die Struktur. Heute wissen wir, dass es nicht möglich ist, ein organisches Molekül zu kennen, ohne seine Herkunft zu berücksichtigen, also das strukturelle Umfeld, aus dem es stammt. Warum ist bei gleicher Dosierung das Vitamin C, das wir aus einer Orange erhalten, sehr viel wirkungsvoller als das, das wir in Tabletten- oder Pulverform einnehmen? Warum neigt, wenn ich vor allem Milchprodukte esse, das aus ihnen stammende Kalzium dazu, meine Knochen zu versteifen und zwar härter, doch auch brüchiger werden zu lassen? Warum haben die Vollkorngetreide (zum Beispiel ganze Reis-, Hirse-, Dinkel-, Gerstenkörner) im Körper eine sehr viel höhere biologische Aktivität als dieselben Produkte in gemahlener Form (zum Beispiel Getreideflocken, Brot etc.)? Die Antwort auf all diese Fragen ist immer dieselbe: die Beschaffenheit der Struktur der Speisen. Wir sind noch nicht dabei angekommen, diese Komplexität und die Mechanismen, die sie sie regulieren, vollends zu begreifen; doch es ist bereits vollends offenbar, dass diese elementaren Nährstoffe, wenn sie in den Stoffwechsel des Körpers eintreten, sich verschieden verhalten, der (pflanzlichen oder tierischen) Struktur nach, der sie entstammen: Zum Beispiel neigen sie, wenn sie einmal im Blutkreislauf sind, dazu, sich an unterschiedliche Moleküle zu binden, sie können eine unterschiedliche Lebensdauer haben und sich sogar tendenziell eher in verschiedenen Körperregionen bewegen. Wahrscheinlich geht einer der Gründe für dieses Verhalten auf die große Komplexität der lebenden Körper (tierisch oder pflanzlich) zurück: In diesen Strukturen liegen die einfachen chemischen Elemente oder auch die Nährstoffe, die wir als Nahrungsbestandteile zu werten gewohnt sind (was weiß ich: Zucker, zum Beispiel; Eiweiße; Vitamine; Mineralien), nie isoliert vor, sondern immer in komplexer, verbundener Form; und auch die Mechanismen und biochemischen Gleichgewichte, die sie erzeugt haben, sind unterschiedlich. In gewisser Weise neigt essbares Gewebe – tatsächlich – dazu, Eigenschaften zu offenbaren, die der biologischen Art eigen sind, der es entstammt, und die nicht durch eine einfache Auflistung der Nährstoffe oder der Moleküle beschrieben werden können, die es enthält. Wie man sich leicht vorstellen kann haben diese Erkenntnisse die Türen zu einem wahrhaften Entwicklungssprung in der Ernährungswissenschaft aufgestoßen und erlauben uns heute, ganz neue therapeutische Strategien und solche, die die Performance betreffen, zu bestimmen. Mit wachsender Anzahl der Themen und Artikel auf dieser Seite werden wir viele praktische Anwengungen dieser neuen Erkenntnis sehen.

ins Deutsche übersetzt von Elisabeth Becker
Bild mit freundlicher Genehmigung von thinktag.org
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